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Expressionismus
 
Der Expressionismus als Kunstrichtung entstand etwa ab dem Jahre 1910. Vereinfacht kann diese Stilrichtung als Kunst des gesteigerten Ausdrucks (von lat. expressio „Ausdruck“) verstanden werden. Im Gegensatz zum Impressionismus, der nur flüchtige und oberflächliche Augenblicke darzustellen versuchte, will der Expressionismus den Betrachter emotional ansprechen und ihn innerlich erschüttern. Als Vorläufer gelten Vincent van Gogh (1853–1890) und Edvard Munch (1863–1949). Die Bilder der Wirklichkeit werden oft verzerrt als Abstraktion und mit kräftigen Farben dargestellt. 
  
 
Fauvismus Brücke Blauer Reiter Marc Macke
   
Das Bild Tierschicksale von Franz Marc (siehe oben) zeigt eine Landschaft mit Tieren, deren Umrisse sich aus abstrakten und geometrischen Formen zusammensetzen. Es scheint, als ob sich die Tiere mit aller Macht gegen etwas aufbäumen, was ihnen jemand angetan hat. Vielleicht ist der Mensch die Ursache für ihre Situation? 
     
Der Fauvismus 
Im Herbst 1905 zeigten an der berühmten und jährlich stattfindenden Kunstausstellung im Pariser „Salon“ junge Maler neue Bilder, die die Öffentlichkeit genauso schockierten wie die der ersten Impressionisten-Ausstellung im Jahre 1874. Ein Kritiker bezeichnete die Künstler als „les fauves“ („die wilden Tiere“), da sie grelle, schreiende und für das Publikum ungewohnte Farben einsetzten, die französischen "Fauvisten" hatten ihren Namen. Sie lehnten den Impressionismus ab und verstärkten die Ausdrucksmittel von Malern wie Vincent van Gogh (1853–1890) oder Paul Gauguin (1848–1903) in hohem Maße. Sie verwendeten schrille und unrealistische Farben, Häuser erschienen plötzlich in sattem Grün und Bäume in flammenden Rot. Der Fauvismus war eine Auflehnung gegen etablierte Kunstvorstellungen. Wichtige Vertreter waren: Henri Matisse (1869–1954), André Derain (1880–1954) und Georges Rouault (1871–1958). Die Fauvisten entdeckten auch die Formen der afrikanischen Plastiken und Masken, die sie in ihren Gemälden einarbeiteten, so auch bei Amedeo Modigliani (1864–1920). 
   
Die Brücke 
In Deutschland schloss sich ebenfalls im Jahre 1905 in Dresden eine Gruppe von Architekturstudenten zur Künstlergemeinschaft „Die Brücke“ zusammen. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938), Karl Schmitt-Rottluff (1884–1976), Erich Heckel (1883–1970) und Fritz Bleyl. Später gehörten der Gruppe auch Otto Mueller (1874–1930), Max Pechstein (1881–1955) und kurzzeitig Emil Nolde (1867–1956) an. Wie die Fauvisten lehnten die Brücke-Maler die etablierten Vorstellungen des 19. Jahrhunderts ab und stellten – beeinflusst durch den norwegischen Maler Edvard Munch (1863–1949) – neben Schönem auch Hässliches, neben Liebe Hass, neben Leben Tod dar. Munchs berühmtestes Gemälde ist das im Jahr 1893 entstandene Bild Der Schrei.  
   
 
Ernst Ludwig Kirchner: Rotes Elisabethufer in Berlin
 

 
Entstehung 1913, Öl auf Leinwand, 101 × 113 cm
 
 
Bei Kirchner sind die Formen stark vereinfacht, sie schildern das hektische Leben in der Großstadt oder stellen in bizarren Farben das Hochgebirge dar.  
   
„Immer war mein Ziel: einfache große Formen und klare Farben, mit diesen beiden Mitteln das Empfinden geben, das Erlebnis (...) Geben wollte ich den Reichtum, die Freude des Lebens, wollte die Menschen malen in ihrer Tätigkeit, in ihren Festen, in ihren Empfindungen zueinander und miteinander. Die Liebe gestalten wie den Hass.“ (L. Kirchner, entnommen aus: H. Richter, 1997, S. 21 f.)  
   
Emil Nolde und Max Pechstein reisten nach Neuguinea, während Otto Mueller an Zigeunermotiven Gefallen fand. Schon die Fauvisten waren durch die Kunst der Naturvölker beeinflusst worden, zum Beispiel Paul Gauguin mit seinen Südseebildern. Kirchner entdeckte im Berliner Völkerkundemuseum die afrikanische und ozeanische Kunst, die sich in seinen Holzschnitten wiederfand. Im Jahre 1913 wurde die Brücke-Vereinigung aufgrund von Meinungsverschiedenheiten der Künstler aufgelöst.  
   
Der Blaue Reiter 
Im März 1909 gründete sich die "Neue Künstlervereinigung München" mit dem vorrangigen Ziel, Kunstausstellungen zu organisieren. Erster Vorsitzender war der Russe Wassily Kandinsky (1866–1944) und zweiter Vorsitzender sein Landsmann Alexej von Jawlensky (1864–1941). Im Jahre 1911 kam es jedoch zu Meinungsverschiedenheiten über künstlerische Auffassungen – für manche waren die Bilder Kandinskys zu abstrakt. Daraufhin erklärten Kandinsky und Marc ihren Austritt. Sie schlossen sich zu einer neuen Künstlergruppe zusammen, die sie „Der Blaue Reiter“ nannten.  
   
„Den Namen 'Der Blaue Reiter' erfanden wir am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf. Beide liebten wir Blau, Marc - Pferde, ich - Reiter. So kam der Name von selbst.“ (W. Kandinsky, in: H. Richter 1977, S. 27)   
   
Nur kurze Zeit später präsentierten sie in der Münchener Galerie Thannhauser eine eigene Ausstellung, auf der Bilder von Wassily Kandinsky, Franz Marc (1880–1916), August Macke (1887–1914), Gabriele Münter (1877–1962) und Henri Rousseau (1844–1910) zu sehen waren. Eine zweite Ausstellung fand im März 1912 in der Münchener Kunsthandlung Goltz statt, an der auch Paul Klee (1879–1940) teilnahm. Im Mai des gleichen Jahres erschien der Almanach Der Blaue Reiter als Programmschrift, in dem aktuelle Beiträge zur Kunst, Musik und Literatur erschienen.  
    
 
Franz Marc: Träumendes Pferd

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Entstehung 1913, Aquarell, 40 × 47 cm, Solomon R. Guggenheim Museum/New York
  
 
Während die Maler der „Brücke“ noch am „Stofflichen“ und den dinglichen Gegenständen festhielten, wandten sich die Maler des „Blauen Reiters“ dem Geistigen zu. Sie sprachen das innere Gefühlsleben an und versuchten beim Betrachter geistige Prozesse in Gang zu bringen. Sie wählten nicht Farbdissonanzen, sondern liebten eher Farbharmonien. Franz Marc versuchte, mit seinen blauen Pferden eine Beziehung zu den Träumen und den Sehnsüchten herzustellen und assoziierte damit beim Betrachter eine geistige Beziehung zu den inneren Prozessen der Natur.  
   
Einen wesentlichen Einfluss auf die Kunsttheorien des Blauen Reiters hatte das 1910 erschienene Buch Kandinskys Über das Geistige in der Kunst. Der Maler hatte eine große geistige Nähe und später auch eine Freundschaft zu dem Komponisten Arnold Schönberg. Er versuchte, eine enge Beziehung zwischen der Malerei und der Musik herzustellen. So wurde er immer wieder durch Konzerte des Komponisten zum Malen seiner drei Gruppen von Bildern angeregt: Die „Impressionen“ als äußerer Eindruck von der Natur, die „Improvisationen“ als Ausdruck spontaner, innerer Regungen und die „Kompositionen“, die nach einem langen inneren Prozess des Schauens entstehen. In dem Kapitel „Wirkung der Farbe“ begründete er die Notwendigkeit des geistigen Elementes in der Kunst:  
   
„Wenn man die Augen über eine mit Farben besetzte Palette gleiten lässt, so entstehen zwei Hauptresultate: 1. Es kommt eine rein physische Wirkung zustande, d.h. das Auge selbst wird durch Schönheit und andere Eigenschaften der Farbe bezaubert. Der Schauende empfindet ein Gefühl von Befriedigung, Freude, wie ein Gastronom, wenn er einen Leckerbissen im Munde hat. Oder es wird das Auge gereizt, wie der Gaumen von einer pikanten Speise (...)  
Nur die gewohnten Gegenstände wirken bei einem mittelmäßig empfindlichen Menschen ganz oberflächlich. Die aber, die uns zum ersten Mal begegnen, üben sofort einen seelischen Eindruck auf uns aus. So empfindet die Welt das Kind, welchem jeder Gegenstand neu ist. Es sieht das Licht, wird dadurch angezogen, will es fassen, verbrennt sich den Finger und bekommt Angst und Respekt vor der Flamme. Dann lernt es, dass das Licht außer feindlichen Seiten auch freundliche hat, dass es die Dunkelheit verscheucht, den Tag verlängert, dass es wärmen, kochen und lustiges Schauspiel bieten kann. Nach der Sammlung dieser Erfahrungen ist die Bekanntschaft mit dem Lichte gemacht, und die Kenntnisse über dasselbe werden im Gehirn aufgespeichert. Das stark intensive Interesse verschwindet, und die Eigenschaft der Flamme, ein Schauspiel zu bieten, kämpft mit voller Gleichgültigkeit gegen sie. Allmählich wird auf diesem Wege die Welt entzaubert. Man weiß, dass Bäume Schatten geben, dass Pferde schnell laufen können und Automobile noch schneller, dass Hunde beißen, dass der Mond weit ist, dass der Mensch im Spiegel kein echter ist.
Und nur bei einer höheren Entwicklung des Menschen erweitert sich immer der Kreis derjenigen Eigenschaften, welche verschiedene Gegenstände und Wesen in sich einschließen. Bei hoher Entwicklung bekommen diese Gegenstände und Wesen inneren Wert und schließlich inneren Klang. Ebenso ist es mit der Farbe, die bei niedrigem Stand der seelischen Empfindsamkeit nur eine oberflächliche Wirkung verursachen kann, eine Wirkung, die bald nach beendigtem Reiz verschwindet. Aber auch in diesem Zustand ist diese einfachste Wirkung verschiedener Art. Das Auge wird mehr und stärker von den helleren Farben angezogen und noch mehr und noch stärker von den helleren, wärmeren: Zinnoberrot zieht an und reizt, wie die Flamme, welche vom Menschen immer begierig angesehen wird. Das grelle Zitronengelb tut dem Auge nach längerer Zeit weh, wie dem Ohr eine hochklingende Trompete. Das Auge wird unruhig, hält den Anblick nicht lange aus und sucht Vertiefung und Ruhe in Blau oder Grün. Bei höherer Entwicklung aber entspringt dieser elementaren Wirkung eine tiefergehende, die eine Gemütserschütterung verursacht. In diesem Falle ist
2. das zweite Hauptresultat des Beobachtens der Farbe vorhanden, d. h. die psychische Wirkung derselben. Hier kommt die psychische Kraft der Farbe zutage, welche eine seelische Vibration hervorruft. Und die erste, elementare physische Kraft wird nun zur Bahn, auf welcher die Farbe die Seele erreicht.“ (W. Kandinsky, 1952, S. 59–61)  
   
Die Formen und Farben der Gemälde sind nach Kandinsky Ausdruck der inneren, geistigen Welt des Künstlers, genau wie die Kompositionen eines Musikers. Beim Betrachter (und beim Hörer) lösen die Farben und Formen emotionale und letztendlich geistige Prozesse aus. Die Kunst soll innere Schau und Reflexion bewirken.
   
Der Expressionismus in der Zeitgeschichte
Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 brach der Blaue Reiter als Künstlergruppe auseinander. Die Kämpfenden Formen von Marc können als Vorahnung auf die Schrecken des bevorstehenden Krieges gedeutet werden. Das Bild kann aber auch philosophisch gedeutet werden: Man glaubt, einen roten Adler zu erkennen, der sich im Kampf mit einer anderen Kreatur befindet. Licht und Finsternis, als polare Kräfte des Lebens, verkörpern den Widerstreit zwischen materieller und geistiger Welt.  
   
 
Franz Marc: Kämpfende Formen
    

 
Entstehung 1914, Öl auf Leinwand, 91 × 131 cm
 
  
Marc, der 1916 im Krieg fiel, wandte sich zusammen mit seinem Freund Kandinsky immer mehr der abstrakten Malerei zu. Kandinsky löste sich vollständig vom Gegenständlichen. Die Abstraktion der Form verband sie mit Malern des Kubismus wie Pablo Picasso, der 1904 mit dem Bild Les Demoiselles d'Avignon diese Stilrichtung eingeleitet hatte.  
   
Obwohl die Künstlervereinigung nur wenige Jahre existiert und nur zwei Ausstellungen durchgeführt hatte, übte sie einen entscheidenden Einfluss auf alle nachfolgenden Kunstrichtungen aus. In Österreich schrieb Oskar Kokoschka (1886–1980) expressionistische Lyrik und Prosa. Aufgrund seiner engen Verbindung zum Theater fertigte er zahlreiche Plakate und Bühnenbilder an. Er malte auch Städteportraits. Der deutsche Maler und Graphiker Max Beckmann (1884–1950) gehörte keiner Künstlergruppe an und schuf expressionistische Gemälde von deutschen Großstädten und zahlreiche Holzschnitte. Zu den Bildhauern, die expressionistische Plastiken schufen, gehörten Georg Kolbe (1877–1947) und Käthe Kollwitz (1867–1945), die 1933 von den Nationalsozialisten ein Arbeitsverbot erhielt und deren Werke wie viele andere Werke des Expressionismus zur sogenannten "entarteten Kunst" diffamiert wurden. Die expressionistische Literatur wurde von Else Lasker-Schüler vertreten, und in der Musik komponierten Arnold Schönberg und Igor Strawinsky expressionistische Stücke. Die Entstehung der Stilrichtung muss im Zusammenhang mit der Zeitgeschichte gesehen werden.

Horst Richter sieht im Expressionismus eine „Antwort der Künstler auf die bedrohlich gewordene Materialisierung und Reglementierung des Lebens“. Die Kunstrichtung trat auch für die Belange der gesellschaftlich Benachteiligten und Ausgestoßenen ein.  [Lit Horst Richter 1997, S. 16-17]
   
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges erlebten die Kunstwerke des Expressionismus einen Boom. Ein Poster von Franz Marc hing in den 1960er Jahren in fast jedem deutschen Wohnzimmer. Der Expressionismus ermöglichte eine Kunst, die alle Individuen und eine große Bandbreite von gesellschaftlichen Fragen mit einbezog. Gleichzeitig eröffnete er für alle nachfolgenden Kunstrichtungen neue Möglichkeiten der freien Farbgestaltung und löste sich somit von engen Form- und Farbzwängen der vorangegangenen, gegenständlichen Malerei. 
   
Weitere Infos
Portrait Vincent van Gogh 
Merkmale des Impressionismus 
Portrait Franz Marc 
Portrait August Macke   
Symbolik und Wirkung der Farbe Blau 
Farbenprojekt: Das Projekt Blau

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