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Hermann Staudinger
 
Hermann Staudinger
 
geboren am 23. März 1881 in Worms
gestorben am 8. September 1965 in Freiburg i.Brg.
  
Leben und Werk

Hermann Staudinger wurde am 23. März 1881 in Worms als Sohn eines Gymnasiallehrers geboren. Der Vater Franz Staudinger stand der Arbeiterbewegung nahe und sorgte dafür, dass Hermann nach dem Schulabschluss eine Tischler- und Schreinerlehre machte.  
  
Von 1899-1903 studierte Hermann Staudinger in Halle, Darmstadt und München Chemie. Die Promotion erfolgte 1903 in Halle mit einer Arbeit über die "Anlagerung des Malonesters an ungesättigte Verbindungen". Bis 1907 war er dann Assistent bei Johannes Thiele an der Universität in Straßburg. Dort gelang Staudinger im Jahre 1905 auch die erste Entdeckung: Bei der Reaktion von Diphenylchloressigsäure mit Zink erhielt er Diphenylketen. Damit hatte Staudinger als erster einen Stoff aus der Gruppe der Ketene isoliert und entdeckt. Diese Stoffe sind für die organische Chemie von Bedeutung, da sie aufgrund ihrer starken Reaktionsfähigkeit zur Herstellung neuer Stoffe verwendet werden können. Mit Wasser bilden sich Carbonsäuren, mit Alkoholen Ester und mit Ammoniak und primären Aminen lassen sich die Amide darstellen. Dass diese Stoffgruppe auch leicht zur Polymerisation neigt, wurde dann ebenfalls bekannt. Die Entdeckung fand in der Fachwelt große Beachtung, Staudinger habilitierte über das Thema der Ketene im Jahr 1907.  
  
Im gleichen Jahr wurde er als Professor an die Technische Hochschule Karlsruhe berufen. Im Institut für Organische Chemie arbeitete er mit Carl Engler (1842-1925) zusammen, der am Erdöl und seinen Verbindungen forschte. Staudinger fand einen neuen und einfachen Syntheseweg zur Herstellung von Butadien und Isopren, den Ausgangsprodukten für die Darstellung von Synthesekautschuk. 
  
1912 folgte Staudinger einer Berufung als Professor an die ETH Zürich. In Zürich forschte Staudinger auch an einer ganzen Reihe von Verbindungen aus der organischen Chemie, so stellte er einen künstlichen Pfeffer her, analysierte das Kaffeearoma oder befasste sich mit den Pyrethrinen, die als Insektenvertilgungsmittel Anwendung fanden. Das damals schon im Handel erhältliche "Dalmatiner Insektenpulver" wurde aus fein gemahlenen Blütenköpfen der Chrysanthemum cinerariifolium Bocc. durch eine Extraktion mit Benzin gewonnen. Mit Hilfe organischer Analysen konnte Staudinger zwei Pyrethrine isolieren, die er als "Pyrethrin I" und "Pyrethrin II" bezeichnete.  
  
Den Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg verurteilte Staudinger scharf. Im Gegensatz zu anderen Chemikern wie Fritz Haber sah Staudinger derartigen Entwicklungen in der Chemie mit großer Sorge entgegen. 

Früher zeigte man in Vorlesungen einen eindrucksvollen Schauversuch: Wenig Kalium und Natrium werden in einem Reagenzglas zusammengeschmolzen und mit einem Kubikzentimer Tetrachlorkohlenstoff überschichtet. Lässt man das Reagenzglas in einen Blecheimer fallen, erfolgt eine heftige Explosion. Dieser Versuch geht auf Hermann Staudinger zurück (vgl. auch >Anmerkungen). Er fand heraus, dass die flüssigen Halogenverbindungen und manche Nitrate mit Kalium, Natrium oder mit einer Kalium-Natrium-Legierung explosionsfähige Gemische ausbilden, die bei geringster Erschütterung detonieren (vgl. Staudinger 1961, S. 47f.). So explodierte auch Ammoniumnitrat in einer Mischung mit Kalium beim Daraufschlagen mit einem Hammer. In einem Steinbruch bei Zürich versuchte Hermann Staudinger einen Diamanten künstlich herzustellen, indem er die Kalium-Natrium-Schmelze mit Tetrachlorkohlenstoff in einem Bombenrohr reagieren ließ. Der Versuch misslang, da die Mischung das Bombenrohr zerfetzte. Staudinger untersuchte auch die Reaktionsfähigkeit des Nitroglycerins bei verschiedenen Temperaturbereichen. Er ließ einen Tropfen Nitroglycerin auf eine erhitzte Eisenplatte fallen, wobei das Nitroglycerin mit einem sehr lauten Knall detonierte, während es im kalten Zustand nur verpuffte. Auch dieser Versuch wird heute in Vorlesungen an Hochschulen gelegentlich vorgeführt.  
  
1920 erschien in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft ein Artikel unter dem Titel "Über Polymerisation". August Kekulé (1829-1896) hatte schon vor 1900 eine bestimmte Gruppe an Kohlenwasserstoffen als "Molekel höherer Ordnung" bezeichnet. Allerdings hatte man zu diesem Zeitpunkt eine andere Vorstellung davon, wie diese hochmolekularen Strukturen zusammengehalten werden. Georg Schröter stellte 1916 eine eigene Theorie über die Entstehung von Polymerisationsprodukten bei den Ketenen auf, der Staudinger aber widersprach. Nach Staudinger sind die Atome in den Polymerisationsprodukten mit Atombindungen untereinander verknüpft: 
  
"Vielmehr können die verschiedenartigsten Polymerisationsprodukte, wie ich im folgenden zeigen möchte, durch normale Valenzformeln eine genügende Erklärung finden (...) Polymerisationsprozesse im weiteren Sinn sind alle Prozesse, bei denen zwei oder mehrere Moleküle sich zu einem Produkt mit gleicher Zusammensetzung, aber höherem Molekulargewicht, vereinigen." (H. Staudinger: Über Polymerisation, in Priesner 1980) 
  
Im folgenden nennt Staudinger Beispiele für Polymerisationen. So führt er die Polymerisation des Styrols zu "Metastyrol" auf. Im Bereich der hochmolekularen Stoffe gibt Staudinger bereits die präzise Formel des polymeren Naturkautschuks an, hier dargestellt in der heutigen Schreibweise: 
  

 
Naturkautschuk: viele Grundeinheiten des Isoprens (hier drei) sind polymerisiert
 

1921 konnte Staudinger einen hochmolekularen Kautschuk darstellen, der aus mehreren Millionen Atomen zusammengesetzt war. Ein Jahr später bezeichnete er die hochmolekularen Moleküle auf einer Versammlung der Kolloidchemiker erstmals als "Makromoleküle". Zu diesem Zeitpunkt lehnte die Fachwelt diesen Begriff noch ab. Staudinger konnte aber bis 1926 seine Hypothese experimentell weiter untermauern. Auf der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte legte er die Ergebnisse über die "Chemie der hochmolekularen Stoffe" vor. Immer noch waren viele Kollegen skeptisch, da sie sich einfach nicht vorstellen konnten, dass es so große Moleküle gibt, die aus mehr als 100000 Atomen aufgebaut sind. Für sie stellten die Polymere lediglich eine große Zusammenballung von Molekülen, sogenannter "Mizellen", dar. 
  
Im Jahre 1926 wechselte Staudinger als Professor an die Universität nach Freiburg im Breisgau. Vermutlich verließ er Zürch, da er dort zuviele Pflichtaufgaben hatte und sich zu wenig der Forschung widmen konnte. In Freiburg führte Staudinger trotz des Disputs in der Fachwelt seine Arbeiten unbeirrt fort. Ein gewichtiges Argument war seine Entdeckung des Zusammenhangs zwischen der Viskosität und des Molekulargewichts in makromolekularen Stoffen. Er untersuchte auch den Aufbau der Stärke und der Cellulose und arbeitete um 1927 an der Aufklärung der chemischen Struktur der natürlichen Baumwollfaser. 1929 führte Staudinger für das Metastyrol den Namen "Polystyrol" ein. Aufgrund Staudingers Arbeiten gelang es der Textilindustrie, synthetische Textilfasern zu entwickeln. Eine US-amerikanischen Arbeitsgruppe um den Chemiker Wallace Hume Carothers (1896-1937) stellte im Jahre 1935 erstmals Nylon her. Trotzdem waren Staudingers Theorien in der Fachwelt immer noch umstritten. 
  
1928 war ein wichtiges Jahr in Hermann Staudingers Privatleben. Schon 1925 hatte der 46jährige Professor die 25jährige, in Estland geborene Biologin Magda Woit kennengelernt. Das Paar heiratete drei Jahre später. Ein später mit ihr geführtes Interview verdeutlicht, wie Hermann Staudinger die Zeit des Nationalsozialismus überlebte. Auf die Frage, wie sie und ihr Mann zum Nationalsozialismus stand, antwortete sie: 
  
"Ja, das hat ihm große Schwierigkeiten bereitet - bis er sich ins Institut einschloss und nicht mehr rechts und nicht mehr links guckte, nirgends mehr auftrat und nur noch bei seiner Arbeit war. Er machte ja noch dazu etwas, was nicht anerkannt war, aber da sagten sie: Der verrückte Professor mit seinem Zeug! Ich glaube, das hat uns gerettet..." (Magda Staudinger in S. Berghahn, u.a.: Frauen in Naturwissenschaften und Technik, S. 30f. Berlin 1984) 
  
1940 eröffnete Hermann Staudinger an der Universität zu Freiburg das Institut für makromolekulare Chemie. Er hatte zu diesem Zeitpunkt Pläne, seine Erkenntnisse auf das Arbeitsgebiet seiner Frau, der Biochemie, auszuweiten. Doch das Institut wurde 1944 bei einem Luftangriff zerstört. Nach dem Wiederaufbau ging Hermann Staudinger 1951 offiziell in den Ruhestand, was ihn aber nicht davon abhielt, das Institut noch 5 weitere Jahre zu leiten. Erst der Nobelpreis für Chemie 1953 brachte ihm die Anerkennung für seine Theorien über die Makromoleküle. Im gleichen Jahr beschrieben übrigens James Watson (geb. 1928) und Francis Crick (1916-2004) erstmals den Aufbau der DNS (international: DNA), eines der größten Makromoleküle in der Natur überhaupt. In seinem Vortrag anlässlich der Preisverleihung sagte Hermann Staudinger: 
  
"Zu den makromolekularen Verbindungen gehören die wichtigsten Naturstoffe, wie die Proteine, Enzyme, die Nucleinsäuren, ferner die Polysaccharide wie Cellulose, Stärke und Pektine, weiter der Kautschuk, und endlich die große Zahl von neuen vollsynthetischen Kunststoffen und künstlichen Fasern. Die makromolekulare Chemie ist also sowohl für die Technik wie auch für die Biologie von großer Bedeutung (...) 
Die Darstellung makromolekularer Produkte geht auf verschiedene Weise vor sich. Als erstes sei die Polymerisation genannt, die eine eigentümliche Kettenreaktion ist (...) Weiter können makromolekulare Stoffe durch Polykondensation hergestellt werden, ein Verfahren, das in der Technik schon lange bekannt ist, und nach welchem bereits L.H. Baekeland die technisch außerordentlich wichtigen Phenolplaste gewann. Dieses Gebiet wurde dann von W.H. Carothers weiterbearbeitet und führte zu technisch so wertvollen Produkten wie dem Nylon." (Staudinger in den Arbeitserinnerungen, S. 311 und S. 315) 
   
Staudingers eigentliche Leistung war die Aufklärung der Reaktionsmechanismen bei der Entstehung makromolekularer Stoffe, die teilweise schon früher bekannt waren. Zusammen mit seinen Mitarbeitern fand er auch Stoffe, die Polymerisationen initiieren, beispielsweise das Benzoylperoxid (vgl. >Polystyrol). Dabei ist auch noch zu erwähnen, dass viele experimentelle Arbeiten von seinen Doktoranten oder Schülern durchgeführt wurden, deren Namen heute nicht mehr so bekannt sind. In seinem Buch "Arbeitserinnerungen" erwähnt Staudinger die jeweiligen Mitarbeiter.  
   
 
Anmerkung zum Versuch

Heute dürfen derartige Versuche aufgrund der hohen Giftigkeit der organischen Halogenverbindungen auf gar keinen Fall mehr öffentlich vorgeführt werden. Ein Chemielehrer des Autors hat sich übrigens vergiftet, weil er den Staudingerversuch immer wieder vorführte, er starb an einer Leberzirrhose, ausgelöst durch Tetrachlorkohlenstoff. Bei einer Vorführung wurde der Autor (als 18-jähriger Schüler in der ersten Reihe sitzend) von einem Glassplitter am Kopf getroffen. Die Gemische sind so schlagempfindlich, dass eine Berührung des Fingerrings am Reagenzglas die Explosion bereits auslösen kann.  
 
 
Empfehlenswerte Literaturquellen
  • Bühler/Graf: Lesetexte für den Chemieunterricht, Stuttgart 1998
  • Hoffmann, Dieter (Hg.), u.a.: Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, München 2004
  • Priesner, Claus: H. Staudinger, H. Mark, K.H. Meyer - Thesen zur Größe und Struktur der Makromoleküle, Weinheim 1980
  • Staudinger, Hermann: Arbeitserinnerungen, Heidelberg 1961

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