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Interview mit Dr. Hermann Fischer
Die Exkursion zur Firma AURO fand am 3. August 1998 statt. Ein besonderer Dank geht an Herrn Haverkamp, der uns eine zweistündige Firmenführung bot und für viele wirtschaftliche und produktionstechnische Fragen zur Verfügung stand. Herr Nolle sei gedankt für die Zusendung und die Genehmigung zur Nutzung von firmeneigenen Fotos. Hermann Fischer (geb. 1953) nahm sich etwa zwei Stunden für das Interview Zeit, welches einen guten Überblick über seine Person und die Kernthesen der Sanften Chemie bietet. Auch ihm danken wir herzlich. Der folgende Text beinhaltet die wichtigsten Passagen des Interviews.

Teil 1: Persönlicher Werdegang von Hermann Fischer 
Teil 2: Firmengründung (Livos und Auro) 
Teil 3: Unternehmensphilosophie 
Teil 4: Plädoyer für eine nachhaltige Entwicklung 
 

Thomas Seilnacht und Hermann Fischer 1998 in Braunschweig


 
Foto: Sonja Schlabach
 
 
Sonja Schlabach:
"Wie sind sie denn überhaupt auf die Sanfte Chemie gekommen? Gab es da persönliche Erlebnisse, die sie erlebt haben?" 
  
Hermann Fischer:
"Persönliche Erlebnisse nicht direkt, ich denke aber, es war im Kern, so etwas wie ein Grundbedürfnis der Vereinigung der zwei Wurzeln der Chemie: Die eine Seite, die ich so gut wie möglich versucht habe zu machen, erlebte ich im Studium. Es war nicht etwa so, dass es mich gelangweilt hätte oder abgestoßen, ich bin wirklich gerne Naturwissenschaftler, aber ich habe immer das Gefühl gehabt, dass die Art von Naturwissenschaft wie sie heute an den Hochschulen gelehrt wird nur die eine Hälfte der Medaille ist." 
  
Thomas Seilnacht:
"Also sie meinen, die systematische Chemie mit Formeln, Molekülbau und Reaktionsmechanismen sei die eine Seite der Chemie?" 
  
Hermann Fischer:
"Genau, also das, was man allgemein als reduktionistische Naturwissenschaft bezeichnet. Und ich habe versucht, da immer einen Ausgleich zu schaffen. Ich bin deswegen sehr früh auch mit der Umweltbewegung in Kontakt gekommen, schon anfang der Siebziger Jahre. Ich habe parallel zu meinem Studium Volkshochschulkurse zum Thema Umwelt gehalten und habe im Schuldienst mein Studium verdient, in dem ich im Gymnasium Chemie und Physik unterrichtete. All das nicht nur um das Studium zu finanzieren, sondern immer wieder, um diese andere Seite im Blick zu behalten. 
  
Oder es war vielleicht auch ein sehr reges Interesse an allen kulturhistorischen Entwicklungen und insbesondere an den Entwicklungen der Chemiegeschichte. Das werden sie ja auch aus meinem Buch, das sie vorhin mit mir in der Hand hatten, auch gesehen haben, dass ich die Idee der Sanften Chemie ja eigentlich fast kulturhistorisch oder chemiehistorisch entwickle. Ich leite sie daher ab, dass eine bestimmte Aggressionstendenz im Menschen dazu führt, dass er eine Naturwissenschaft kreiert hat, die so gewaltsam geworden ist, sowohl in den Methoden als auch in ihren Auswirkungen. Das ist ja eines dieser Konzepte die durchaus diskutierbar sind. Aber ich meine, dass wenn man sich den Stoffen gegenüber hochmütig und aggressiv verhält, dass dann so etwas wie eine immanente Aggressivität auch in den Stoffen bleibt. Wenn ich mit Chlorgas auf Organika, auf organische Moleküle losgehe, dann ist das ein aggressives Verhalten, oder im chemischen Sinne ist das ein hoher Energie-Input, aber es bleibt in der Signatur dieser Stoffe auch erhalten. 
  
Meine persönliches Interesse ging bis dahin, dass ich mich intensiv mit der Geschichte der zeitgenössischen Chemie beschäftigt habe, das heißt also mit den Zusammenhängen zwischen Faschismus, Entwicklung von Schädlingsbekämpfungsmitteln, Giftgaseinsatz in den Konzentrationslagern, usw. Ich versuche, diese Zusammenhänge immer wieder aufzuzeigen und habe das auch seit ungefähr zwanzig Jahren in der Universität als Vorlesung zur Chemiegeschichte versucht, immer wieder den Studentinnen und Studenten nahezubringen, wo übrigens auch ziemlich viele Lehramtsstudenten und -studentinnen der Chemie dabei waren. Einerseits hatte ich Themen wie diese Wurzel unserer Wissenschaft in der antiken Philosophie und Kunst, aber andererseits auch die Chemie der Nazizeit. Das war zeitweilig Anfang der Achtziger Jahre bis zum Ende der Achtziger Jahre etwas unheimlich Gefragtes." 
  
Thomas Seilnacht:
"Ich würde gerne noch einmal nachhaken: Gibt es aus ihrer Jugendzeit oder auch aus dem Studium etwas Besonderes, was sie entscheidend geprägt hat?" 
  
Hermann Fischer:
"Ja, eigentlich nichts jedenfalls, was mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu jenem kritischen Hinterfragen geführt hätte. Ich habe mir schon als Jugendlicher ein Chemielabor im Elternhaus eingerichtet. Ich denke, das ist keine untypische Karriere." 
  
Thomas Seilnacht:
"Was hat dann den entscheidenden Kick gegeben, dass sie ihre Richtung eingeschlagen haben?" 
  
Hermann Fischer: 
"Ja, einfach das vollständige Einbeziehen dieser philosophischen Seite der Chemie - ich meine, das ist etwas gewesen, was ich schon als Schüler hatte, aber nicht zusammengebracht habe mit der Naturwissenschaft, ich habe mich als Schüler für Naturwissenschaft interessiert und habe mich gleichzeitig für Literatur interessiert. 
  
Thomas Seilnacht: 
"Und dann ist ja auch irgendwann die Firma AURO entstanden. Ich weiß, dass es kein Familienbetrieb gab, sondern dass sie von ihnen gegründet wurde. Können sie die Entstehungsgeschichte kurz schildern?" 
  
Hermann Fischer: 
"Dazu muss ich etwas ausholen, das ist ja nicht mein erster Betrieb, den ich gegründet habe. Ich habe schon 1974 einen ersten Betrieb so aus dieser, sagen wir mehr sozialen und pädagogischen als ökologischen Bewegung der späten Sechziger und frühen Siebziger Jahre heraus gegründet. Es war im Grunde genommen in Zusammenarbeit mit sehr vielen Menschen. Unsere Firma hatte anfangs so etwa 25 Inhaber, und das war eigentlich der Startpunkt für mich selber, diese Idee im Unternehmerischen umzusetzen. Bloß dieses erste Unternehmen ist dann in das Schicksal hineingelaufen, das viele Unternehmen, die damals gegründet worden sind, ereilt hat, nämlich, dass es dann nachher in den gruppendynamischen Prozess hineinkam. Das Problem war, dass es eine Vielzahl von zentrifugalen Kräften gab, die in alle Herren Länder zerstreut wurden. Dieses Projekt, was eben ein soziales Projekt war, das ist von Anfang an gescheitert." 
  
Thomas Seilnacht: 
"Wie hieß diese Firma damals?" 
  
Hermann Fischer: 
"Das war Livos." 
  
Thomas Seilnacht: 
"Die gibt es ja heute noch!" 
  
Hermann Fischer: 
"Ja, von den 25 ist heute nur noch einer bei Livos." 
  
Thomas Seilnacht: 
"Haben sie das direkt nach dem Studium gemacht?" 
  
Hermann Fischer: 
"Im Studium. Wenn ich mich recht entsinne, noch vor meinem Vordiplom." 
  
Thomas Seilnacht: 
"Sie sagten vorher, sie unterrichteten an der Schule, war das danach?" 
  
Hermann Fischer: 
"Nein, das war auch gleichzeitig, fragen sie nicht, wie ich das gemacht habe!" 
  
Thomas Seilnacht: 
Und speziell AURO?" 
  
Hermann Fischer: 
"Es war dann so, dass wir, meine Frau und unsere zwei kleinen Kinder, diese Lebensgemeinschaft dann verlassen haben. Ich muss sagen, dass eigentlich für mich so etwas wie eine wissenschaftliche Laufbahn an der Hochschule in Frage kam, ich hätte durchaus habilitieren können, aber die Leute aus dem Markt unserer Produkte, unsere Käufer, kamen in größerer Zahl zu mir und sagten: 'Du hast das jetzt gemacht und jetzt kannst du nicht einfach weggehen!' Dann habe ich einfach die Firma gegründet. Das Problem daran war, dass ich keine müde Mark hatte." 
  
Thomas Seilnacht: 
"Wann war das genau?" 
  
Hermann Fischer: 
"Das war 1983. Der Geldmangel war ein entscheidendes Problem. Das war so ein bisschen wie bei Münchhausen - am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. Ich bekam eine Bürgschaft von einem Freund, aber das war ja kein Geld, das war nur eine Bürgschaft, er hat nur den Kopf für eine Zeit lang hingehalten. Dann beschaffte eine Bank einen Existenzgründungskredit und zusammen mit der Bürgschaft kam ich zu 'Eigenkapital', obwohl ich ja eigentlich keine müde Mark hatte. Dadurch erhielt ich Betriebsmittelkredite, die wiederum über die entsprechenden Maschinen abgesichert waren. Wir hatten anfangs nur einen Teil dieses Geländes, was sie hier heute sehen, zur Miete. Es war ein hohes Risiko, wenn es schief gegangen wäre, hätte ich mein Leben lang abgezahlt." 
  
Sonja Schlabach: 
"Mit wieviel Mitarbeiter haben sie angefangen?" 
  
Hermann Fischer: 
"Mit drei, heute sind es 43." 
  
Sonja Schlabach: 
"Wieviel Tonnen Material vertreiben sie heute?" 
  
Hermann Fischer: 
"Ich schätze mal so fünf bis zehn Tonnen pro Tag. - Wir sind übrigens am 18. Januar 1998 Aktiengesellschaft geworden, die jetzt in den nächsten Tagen im Handelsregister eingetragen wird. Wir planen, den vielen Menschen, die in den letzten Jahren immer wieder zu uns gekommen sind, ein Forum zu bieten, weil die GmbH, die es bis jetzt gab, dafür schlecht geeignet ist. 
  
Thomas Seilnacht: 
"Uns würde aus der Unternehmensphilosophie noch einiges interessieren. Können Sie unseren Lesern die Grundprinzipien der Sanften Chemie und die Unternehmensgrundsätze nochmals kurz erläutern?" 
  
Hermann Fischer: 
"Ich denke eines der Grundprinzipien der Sanften Chemie, von denen ich ausgehe, ist so etwas wie Respekt. Das klingt jetzt so wie eine konservative Moralphilosophie, es ist aber eigentlich genau das Gegenteil. Was dahinter steht ist, dass ich eine Hochachtung vor den Prinzipien, nach denen in der Natur, insbesondere in der belebten Natur, Stoffe gebildet werden. Und ich weiß, dass ein großer Antrieb in der sogenannten "Harten Chemie", also der klassischen Chemie, wie wir sie in diesem Jahrhundert hauptsächlich erlebt haben, daher kam, genau das Gegenteil zu tun, nämlich eigentlich so etwas wie eine Geringschätzung dieser "gewordenen" Stoffe und ein hochmütiges Sich-Hinwegsetzen von diesen Prinzipien, also sehr verkürzt und plakativ nach dem Motto: "Das können wir besser". Mich hat immer die Intelligenz dieser Stoffbildungsprinzipien, wie sie in der Natur vorhanden ist, fasziniert." 
  
Sonja Schlabach: 
"Können sie ein Beispiel machen?" 
  
Hermann Fischer: 
Es existiert in der Natur eine absolut ganzheitliche Intelligenz und nicht nur eine biologische Intelligenz, das bedeutet, dass nichts in der Natur in einer Pflanze aufgebaut wird, für das nicht gleichzeitig - nicht danach, sondern parallel - das Abbauprinzip von beispielsweise einer Enzymreaktion in einem Organismus vorhanden ist. Es wird nichts aufgebaut, von das nicht vorher der Entsorgungspfad geklärt ist. Das klingt jetzt sehr teleologisch. Der evolutionäre Entwicklungsprozess, der dazu führt, also die Mechanik des Ganzen, ist für mich zweitrangig. Der Effekt, dass das funktioniert hat, dass sich das bewährt hat, das finde ich so faszinierend. Das ist die eine Form der Intelligenz, aber es ist ja auch eine andere Form von Intelligenz vorhanden: Es sind alles Stoffe, die in der Natur entstehen, mit einer hohen ästhetischen Faszination. Entweder ganz auf der makroskopischen Ebene - wenn sie eine Wiese sehen und da geht der Wind darüber, diese Wellenbewegung, die da entsteht, das hat eine hohe Ästhetik - aber auch wenn sie auf der Mikroebene eine Grasähre angucken und die ganz genau mikroskopisch ansehen, dann sehen sie eine hohe Ordnung oder Struktur. Es ist dort keine mechanische Ordnung, sondern so etwas wie eine künstlerische Ordnung. Das sind diese Prinzipien, von denen ich ausgegangen bin, die immer wieder zu diesem Respekt, zu dieser Hochachtung, zu dieser Faszination, zu dieser Liebe diesen Naturprozessen gegenüber geführt hat. Ich denke, die "Verliebtheit" in diese Prozesse ist der Schlüssel. Sie wissen ja, wenn man in eine Person verliebt ist, erst dann ist man in der Lage, die ganze Vielfalt der Vorzüge - die man manchmal auch überbetont - in dieser Person zu erkennen. Und ich glaube, den Chemikern dieses Jahrhunderts hat häufig die Liebe zu diesen Naturprozessen gefehlt, und das hat ihnen früher den Weg zur Erkenntnis versperrt, dass man unglaublich viel von diesen Naturprozessen lernen kann. 
  
Die Stufen sind: Respekt, Liebe, Demut. Demut heißt für mich, ich vergleiche meine Möglichkeiten, meine Fähigkeiten, die Dinge zu überblicken, mit den Fähigkeiten die durch die Evolution in den Naturprozessen enthalten sind und das kann zu einer Art Demut führen, weil das ein unglaubliches Größenverhältnis ist. Es soll aber nicht nur bei einer passiven Demutshaltung bleiben, die nächste Stufe ist, dass aus dieser Demutsstufe eine Schülerschaft entsteht, in der man die Natur als eine Art Lehrmeisterin anerkennt. Sie sehen, ich rede da von lauter Begriffen, die in anderen naturwissenschaftlichen Konzepten nicht vorkommen. 
  
Thomas Seilnacht: 
"Was meinen sie, lassen sich ihre Gedanken verwirklichen, wenn man die Chemie und die anderen Konzeptionen insgesamt sieht?" 
  
Hermann Fischer:
"Nicht im Sinne einer Eins-zu-eins-Konversion, nicht in dem Sinne, dass wir all das, was wir heute auf der Basis synthetischer, harter Chemie tun, dass wir das morgen auf der Basis nachwachsender Rohstoffe machen. 
  
Sonja Schlabach: 
"Also, wir müssen dann Kompromisse schließen?" 

Hermann Fischer:
 
"Nein, das hat etwas mit einer Revolution zu tun, mit einer Revolution im Denken, einer Revolution in den Konsummustern einer Revolution in der Art, wie wir Stoffe gebrauchen, einer Revolution in unserer Haltung gegenüber den Stoffen und den Stoffströmen - und all diese Revolutionen die da dazugehören. Man könnte angesichts der Tatsache, dass der chemische Mainstream noch so mächtig ist, resignieren. Ich glaube aber nicht an Resignation, ich glaube an die fermentative Wirkung von Ideen. Ein klein bisschen Sauerteig reicht aus, um eine riesige Menge von Mehl und Wasser wieder zu einem reinen, vollständigen Sauerteig zu machen. Und ich sehe in den vergangen Jahren, dass viele der Ideen, für die viele meiner Mitstreiter und ich selbst noch vor zwanzig Jahren verhöhnt wurden, dass diese Ideen in der Zwischenzeit Bestandteil von groß angelegten Konzeptionen sind. 
  
Thomas Seilnacht: 
"Ich stelle auch seit einiger Zeit fest, dass es in der sogenannten "Harten Chemie" Arbeitsgruppen zum Thema nachwachsende Rohstoffe gibt. Was halten sie davon?" 
  
Hermann Fischer: 
Ich sehe auch in diesem Phänomen zwei Seiten: Fangen wir mal mit der negativen an, damit wir die dann schnell vergessen können. Natürlich ist das ein bisschen Showeffekt oder ein Stückchen Imagepflege der großen Chemiefirmen. Aber das magische Geheimnis dessen ist, dass selbst jemand, der sich nur aus Public Relation und Imagegründen mit diesem Thema beschäftigt, diesem fermentativen Fortpflanzungsprinzip erliegt. Das heißt also, dass diejenigen Leute, die für diese Art von Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt sind, diese Art von Faszination gewinnen, vielleicht diese Art von Liebe - weit entfernt sind sie noch von dieser Art von Demut - aber immerhin: Aus einer Bewegung, die ursprünglich vielleicht nur Public Relation war, entsteht etwas Echtes im Kern. Einige sind etwas schneller wie Henkel, andere etwas langsamer, aber alle sind gezwungen, sich in dieser Richtung zu bewegen. Insbesondere seit sie sich alle verpflichtet haben, auf die Prinzipien der Agenda 21, also auf nachhaltige Entwicklung zu bekennen. Zu Sanfter Chemie hätten sie sich nie bekannt, weil das ein "verbranntes" Wort ist." 
  
Thomas Seilnacht: 
"Ich glaube, der Begriff stammt ja auch von ihnen, oder?" 
  
Hermann Fischer: 
"Ja. Da gibt es jetzt eine Reihe von Begriffen. Die Amerikaner versuchen so etwas wie eine "green chemistry" zu lancieren, meinen damit aber eher nur eine "pollution reduction chemistry", also die alten Prinzipien beibehalten und weniger aus den Schornsteinen herauslassen. Das ist es ja nicht, was ich mir vorgenommen habe. Insgesamt aber muss ich sagen, dass mich diese Entwicklung, die in der Chemieindustrie eingesetzt hat, doch hoffnungsvoll stimmt. Sie braucht aber weiterhin kritische Begleitung. Man muss verhindern, dass die guten Begriffe wir "Nachhaltigkeit" als Reinwasch- und Weichspülbegriffe die Chemieindustrie davon abhalten, die eigentliche Umsetzung auf der stofflichen Ebene zu realisieren."


*** Ende des Interviews ***


Die neun Kernthesen einer Sanften Chemie
Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Hermann Fischer
erschienen in „Plädoyer für eine Sanfte Chemie“,
C. F. Müller Verlag Karlsruhe, 1993, S. 21-24



These 1: Analyse der gesamten Produktbiographien
 
Die Erkenntnis der Notwendigkeit einer Sanften Chemie ergibt sich aus der kritischen Untersuchung der real existierenden Chemie in ihrer Theorie, Forschung, Produktentwicklung und technologischen Praxis im Hinblick auf deren pädagogische, philosophische, ästhetische, toxikologische, ökologische, ökonomische und soziale Grundlagen und lokale wie globale Auswirkungen. Dabei werden die verwendeten Verfahrenstechniken, Umwandlungsprozesse, Energie- und Stoffströme (prozessualer Aspekt) mindestens gleichrangig bewertet wie die eingesetzten und resultierenden Substanzen (stofflicher Aspekt). Sanfte Chemie entsteht folglich nicht allein aus einer angestrebten Alternative zu den real existierenden Chemikalien und Produkten mit deren toxikologischen und ökotoxikologischen Zahlenwerten (MAK, ADI, LD50, LC50, WGK etc.), sondern noch mehr aus einer ganzheitlichen Sichtweise der gesamten Biografie, den Prozessketten und Produktlinien der betreffenden Produkte. Dieser prozessuale Aspekt setzt bei den primären Rohstoffen an, betrachtet alle Zwischenschritte der Produktion, das Produkt selbst - und zwar vor, während und nach dem Gebrauch - sowie die Schritte bis zur Entstehung der letzten Zersetzungsprodukte und deren Verbleib in der Umwelt. 
  
These 2: Stoffbildungsprozesse der Natur als Vorbild 
Sanfte Chemie ist die Chemie auf der Grundlage der Stoffbildungsprozesse der Natur. Sie nutzt die Syntheseprinzipien, die sich im Verlauf der Evolution als langfristig bewährt entwickelt und durchgesetzt haben. Sie geht von der Überzeugung aus, dass die Herausbildung dieser Prinzipien - vor allem der Photosynthese - im evolutionären Wettbewerb die beste Garantie dafür darstellt, dass auf dieser Grundlage auch auf lange Sicht der stoffliche Bedarf der Menschheit und ihrer pflanzlichen und tierischen Mitwelt ohne Beeinträchtigungen von Umwelt und Gesundheit gedeckt werden kann. 
  
These 3: Nutzung von Vielfalt und Komplexität 
Sanfte Chemie geht von der Überzeugung aus, dass die enorme, noch nicht einmal voll übersehbare Vielfalt der aus Naturprozessen entstandenen Stoffe sowie die beeindruckende stoffliche Komplexität vieler dieser Naturstoffe bei intensiver Anwendungsforschung vielleicht nicht alle, aber doch alle wesentlichen stofflichen und auch viele energetische Grundbedürfnisse des menschlichen Lebens ohne einschneidende Einschränkungen an Lebensqualität zu befriedigen vermag. Eine solche Anwendungsforschung ist leider mit dem Aufkommen der organisch-chemischen Synthese Mitte des vergangenen Jahrhunderts weitgehend abgebrochen worden und sollte durch den neuen Impuls für eine Sanfte Chemie einen Neuanstoß erfahren. 
  
These 4: Die Gewalt gegen die Stoffe wirkt auf uns zurück 
Die Grundkonzeption einer Sanften Chemie orientiert sich an der These, dass die gewaltsamen Einwirkungen, die bei den Produktionsstrategien der Harten Chemie den gewählten Ausgangsstoffen zwangsweise auferlegt werden, nicht ohne Wirkung in den Stoffen selbst bleiben. Je gewaltsamer diese Erzwingung bestimmter Reaktionsabläufe erfolgt, um so größer ist das Risiko, dass die so erzeugten Stoffe die ihnen auferlegte Gewalt weiter in sich tragen und - im Sinne einer reziproken Wirkungsbeziehung - auf die Lebenswelt über kurz oder lang gewaltsam zurückwirken. Viele negative Phänomene im Zusammenhang mit der zunehmenden Chemisierung unserer Welt können mit einer solchen Arbeitshypothese eher verstanden und neu bewertet werden. Damit wird deutlich, dass das Konzept der „Gewaltsamkeit“ und ihres Zurückwirkens im Sinn eines heuristischen Prinzips nicht als eine metaphysische, in den Stoffen nicht verifizierbare Qualität zu verstehen ist. Die damit verbundenen Überlegungen, die eine Zurückhaltung und Behutsamkeit im menschlichen Handeln nicht nur gegenüber der Mitmenschheit, der Tier- und Pflanzenwelt fordert, sondern auch gegenüber der unbelebten Welt der chemischen Stoffe, gehört dennoch zu den Ideen, die von den in heutiger naturwissenschaftlicher Denkweise geprägten Fachleuten am schwierigsten nachzuvollziehen sein werden. Und doch ist die Begründung der Sanften Chemie ohne eine neu zu gewinnende Ethik auch gegenüber dem Umgang mit der unbelebten Welt unvollständig. 
  
These 5: Eingriff in Naturstrukturen vermeiden
Im Hinblick auf die eingespielte und erprobte Perfektion, mit welcher Aufbau komplexer Strukturen in der Natur vor sich geht, will sich die Praxis der Sanften Chemie nach Möglichkeit jedes tiefwirkenden Eingriffs in die so gebildeten stofflichen Strukturen enthalten; sie geht von der Überzeugung aus, dass ein solcher Eingriff in die molekulare Integrität je nach Art und Umfang allein aufgrund des Energieaufwandes, möglicher Nebenreaktionen, vermehrter Abfallbildung usw. die durch die ursprüngliche Natursynthese gegebenen ökologischen Vorteile zu einem erheblichen Teil wieder aufheben wird. Ziel der Sanften Chemie sollte daher allenfalls eine vorsichtige Abwandlung der gegebenen Molekülstrukturen mit einem Minimum an Anlagen- und Energieaufwand sein. Die Vielfalt und Reichhaltigkeit der Substanzen aus den natürlichen Produktionsprozessen legt statt einer starken Abwandlung vielmehr die Suche nach anderen natürlichen, für den Einsatzzweck besser passenden Naturstoffen nahe. 
  
These 6: Die Nutzung der Sonnenenergie als optimale Quelle 
Das Konzept der Sanften Chemie orientiert sich an den Naturprozessen auch deshalb, weil diese als wesentliche Energiequelle eine Quelle außerhalb des eigenen globalen Systems nutzt: Sonnenenergie. Im Vergleich zu den chemischen Prozessen in den Industrieretorten kommt damit die zur Strukturbildung notwendige Energie nicht aus Quellen, die durch die Erzeugung der Energie und die damit unweigerlich verbundene enorme Vermehrung von Entropie (strukturelle Unordnung) wieder selbst in erheblicher Weise zur Umweltbeeinträchtigung und Klimaveränderung beitragen. 
  
These 7: Nutzung einer Pflanzen-Chemie ohne Störfälle 
Die Idee einer Sanften Chemie wird getragen von der jedem bekannten und einleuchtenden Tatsache, dass es im Zusammenhang mit dem Stoffaufbau durch Naturprozesse keinesfalls zu den Störfällen kommen kann, die in den großen Chemiebetrieben beinahe zum üblen Alltag geworden sind. Der extremste Störfall im Pflanzenbereich ist der vollständige Ernteausfall. Dieser hat wohl ökonomische Auswirkungen, versperrt jedoch in keinem Fall die Möglichkeiten, im nachfolgenden Anbauzyklus ohne Beeinträchtigung wieder Stoffproduktion vorzunehmen. Der extremste Störfall im Bereich der chemischen Synthese besteht jedoch in der großflächigen Verseuchung nicht nur des Produktionsbetriebs selbst, sondern auch seiner näheren und weiteren Nachbarschaft. Neuere Untersuchungen zeigen, dass allein durch das mögliche Entweichen eines unvermeidlichen Schlüsselreagens für einen der bedeutendsten Massenkunststoffe (Phosgen für die Herstellung von Polyurethanen) schwere Vergiftungen und Zehntausende von Todesfällen noch im Abstand von 50 bis 100 km vom eigentlichen Fabrikstandort durchaus realistisch sind. Die schweren Störfälle in Bhopal, Seveso, Schweizerhalle und Frankfurt sind die traurigen Beweise, dass es sich dabei nicht bloß um theoretische Möglichkeiten handelt. Es kommt hinzu, dass bei der Betrachtung dieser massiven Störfälle die täglichen „normalen“ Emissionen aus solchen Anlagen noch nicht berücksichtigt sind. 
  
These 8: Sondermüll kann vermieden werden 
Auch unter dem Gesichtspunkt der Abfallbildung sind die Naturprozesse, wie sie die Sanfte Chemie nutzen und einsetzen will, den Syntheseprozessen der chemischen Industrie in qualitativer (Art der Abfälle) und quantitativer Hinsicht (Menge der Abfälle) so haushoch überlegen, dass ein direkter Vergleich fast unfair erscheint. Während die Abfallprodukte der pflanzlichen Produktion in Gestalt von Sauerstoff und kompostierbaren Pflanzenteilen direkt zur Aufrechterhaltung des stofflichen Kreislaufes beitragen, sind die Abfälle der chemischen Industrie in der Regel mehr oder weniger problematischer Sondermüll. 
  
These 9: Die Sanfte Chemie schließt Stoffkreisläufe 
Die Überlegungen zu einer Sanften Chemie stützen sich nicht zuletzt auf die schlichte Tatsache, dass in einer endlichen Welt die gängigen Produktionsverfahren ohne wirklichen stofflichen Kreisschluss  keine Zukunft haben werden: In bald absehbarer Zukunft werden die bislang genutzten fossilen Ressourcen als Quellen aufgezehrt sein, während andererseits auch die zur Verfügung stehenden Deponierungsmöglichkeiten für die unvermeidlichen Abfall- und Reststoffe chemischer Produktion als stoffliche Senken ausgeschöpft sein werden. 
 
   
  Ein Buch als Wegbereiter zu einer ökologischen Chemie
 
 
Die gesamten Gedanken finden sich in diesem Buch.
  

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